OVG NRW: Einschneidende Änderungen im kommunalen Gebühren- und Beitragsrecht

19.05.2022 Die Abwassergebühren sind zu hoch, so stufte das OVG Münster die Abwassergebührenkalkulation der Stadt Oer-Erkenschwick für das Jahr 2017 als rechtswidrig ein, weil die konkrete Berechnung von kalkulatorischen Abschreibungen und Zinsen zu einem Gebührenaufkommen führt, das die Kosten der Anlagen überschreitet. Das hat das Oberverwaltungsgericht heute in einem Musterverfahren entschieden und damit seine langjährige Rechtsprechung zur Kalkulation von Abwassergebühren geändert. Das Urteil ist zu einem Abfallgebührenbescheid ergangen, betrifft allerdings generell die Kalkulation von Benutzungsgebühren der Gemeinden.

Für die Benutzung kommunaler Einrichtungen wie der Abwasserentsorgung oder der Straßenreinigung erheben die Gemeinden Gebühren. Diese sollen die Kosten der Einrichtungen decken. So bestimmt es das Kommunalabgabengesetz und so gebietet es auch die Finanzverfassung des Grundgesetzes.
Das Urteil betrifft vor allen Dingen zwei Kosten, die die Gemeinden in ihre Kalkulation einstellen, die Zinsen und die Abschreibungen.

Bei der Gebührenkalkulation können die Gemeinden Zinsen für die Kredite in Ansatz bringen, die sie für die Investitionen aufnehmen. Außerdem können sie einen fiktiven Eigenkapitalzins in Ansatz bringen, wenn sie Eigenkapital in ihren Anlagen investieren, statt es zinsbringend anzulegen. Bei der Höhe dieser Zinsen vertrat das OVG NRW in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, die Gemeinden könnten sich an einem Durchschnittszinssatz der letzten 50 Jahre orientieren. Begründet wurde dies damit, dass z.B. Kanalisationsanlagen auf eine lange Nutzungsdauer angelegt seien und immer wieder Neuinvestitionen stattfänden. Investitionen ließen sich daher nicht bestimmten Jahren zuordnen.
Aus Gründen der Praktikabilität könne den (fiktiven) Eigenkapitalzins den (gezahlten) Fremdkapitalzins kalkulatorisch ein einheitlicher Zinssatz zugrunde gelegt werden, in dem der Durchschnittszinssatz für öffentlichen Anleihen der letzten 50 Jahre um 0,5 % erhöht wird.
Mit diesem Rückgriff auf die Zinssätze der letzten 50 Jahre konnten die Gemeinden auch die Hochzinsphase der 70er Jahre einbeziehen werden und damit hohe Zinssätze erheben.

Dieser langjährigen Rechtsprechung erteilte das OVG nunmehr eine Absage.

Der die Berücksichtigung der fiktiven Eigenkapitalverzinsung rechtfertigende Gesichtspunkt, die Gemeinde hätte ihr Eigenkapital auch auf dem Kapitalmarkt anlegen können, statt es in die Kanalisation zu investieren, rechtfertige es nicht, bei der Ermittlung dieses kalkulatorischen Eigenkapitalzinses auch Zinssätze zu berücksichtigten, die mit der Realität nichts zu tun haben. Geldanlagen, die die Gemeinden vor 50 Jahren alternativ zu ihrer Investition tätigen könnte und die heute noch Zinserträge abwerfen gibt es schlicht nicht. Insoweit könne allenfalls ein Durchschnittszinssatz der letzten 10 Jahre zugrunde gelegt werden. Entsprechendes gilt für den Fremdkapitalzins. Hier kann die Gemeinde nach der Entscheidung auch die tatsächlich gezahlten Zinsen bei der Kalkulation ansetzen.

Damit sinken die Zinsen deutlich, die die Gemeinde bei der Kostenkalkulation in Ansatz bringen kann.
Im konkreten Fall von 6,52 % auf 2,42 %.

Die zweite wesentliche Korrektur betrifft die Abschreibungen. Mit den Abschreibungen wird berücksichtigt, dass die benutzten Anlagen nur eine begrenzte Nutzungsdauer haben und nach Ablauf dieser Nutzungsdauer neu geschaffen werden müssen.
Auch hier war das OVG NRW in der Vergangenheit recht großzügig. In der Vergangenheit konnte bei den Abschreibungen der Wiederbeschaffungszeitwert zugrunde gelegt werden und zugleich beim aufgewandten Eigenkapital Nominalzins, also ein Zinssatz der nicht um die Inflationsrate gemindert wird (= Realzins). Mit den Abschreibungen nach dem Wiederbeschaffungszeitwert wird berücksichtigt, dass die Neuanschaffung einer Anlage nach Ablauf der Nutzungsdauer durch die Preissteigerungen teurer ist, als bei der erstmaligen Anschaffung. Die Abschreibungen zum Wiederbeschaffungszeitwert tragen dazu bei, dass die Gemeinde damit am Ende der Nutzungsdauer der Anlage das Geld hat, was sie für eine Neuanschaffung der Anlage benötigt. Ein Problem entsteht aber, wenn zugleich das in der Anlage gebundene Eigenkapital zu seinem um Abschreibungen geminderten Restwert mit dem Nominalzins verzinst wird. Der Nominalzins ist der tatsächlich für eine Geldanlage gezahlte Zins. In diesen ist regelmäßig- auch die Inflationsrate eingepreist.
Die Teuerungsrate wird dann doppelt berücksichtigt. Einmal beim Wiederbeschaffungszeitwert und dann beim Eigenkapitalzins. Dass das so ist, bestreitet niemand, aber erst jetzt geht das OVG NW davon aus, dass diese Berechnung mit dem Gesetz nicht vereinbar ist. Das OVG NRW entnimmt dem gesetzlichen Zweck der Gebührenerhebung nach § 75 Abs. 1 Satz GO und § 77 Abs. 1 Satz GO eine Begrenzung der Gebührenerhebung. Danach dürfen Abgaben nur insoweit erhoben werden, als diese zur stetigen Aufgabenerfüllung erforderlich sind. Damit können nur solche Aufgaben erhoben werden, die den Fortbestand der Einrichtung gewährleisten aber nicht die Erwirtschaftung eines Gewinns.

Damit sind künftig nur zwei Formen der Abschreibung zulässig: entweder eine Abschreibung nach den Grundsätzen der realen Kapitalerhaltung. Das ist die Abschreibung auf die Anschaffungswerte mit einer Nominalverzinsung des Eigenkapitals. Oder eine Abschreibung als Nettosubstanzerhaltung, das sind Abschreibungen nach dem Wiederbeschaffungszeitwert und die Verzinsung des Eigenkapitals nach dem Realszins.

Die Auswirkungen dieser Rechtssprechungsänderung sind gewaltig: die Abwassergebühren der beklagten Stadt Oer-Erkenschwick waren um 18% überhöht bzw. in Höhe eines Betrages von 977.885,00 €. Es liegt auf der Hand, dass diese Rechtsprechung umfangreiche Konsequenzen für die Gebührenerhebung der Gemeinden hat, denn die Aussagen des OVG betreffen nicht nur die Kalkulation der Abwassergebühren. Sie betreffen also auch die Abfallgebühren und Straßenreinigungsgebühren etc

Sozialpolitisch betrachtet ist die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts ein klarer Fortschritt. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes geht von der Finanzierung der Staatsaufgaben durch Steuern aus. Die Bundesrepublik ist ein Steuerstaat. Steuern werden vom Staat voraussetzungslos, also ohne eine Gegenleistung allein orientiert an der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen erhoben. Wer besonders leistungsfähig ist, hat höhere Steuern zu zahlen als andere, die nicht leistungsfähig sind. Anders hingegen bei den Gebühren. Bei den Gebühren spielt grundsätzlich die Leistungsfähigkeit der Gebührenschuldner keine Rolle. Für das Schmutzwasser zahlen arm und reich gleich viel. Mit dem Gewinnaufschlag auf die Gebühren finanzieren die Gemeinden ihre übrigen Ausgaben, die an sich über die Steuer zu finanzieren sind. Der Gewinnanteil der Kommunalgebühren hat so den Charakter einer kommunalen „Kopfsteuer“, bei der Arm und Reich pro Kopf dieselben Steuern zahlen. Dieser Hintergrund mag erklären, weshalb die Rechtsprechung des OVG NRW über Jahrzehnte umstritten war.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann die Stadt Beschwerde einlegen, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.
Aktenzeichen: 9 A 1019/20 (I. Instanz: VG Gelsenkirchen 13 K 4705/17)

RA Wilhelm Achelpöhler, Münster
(Der Verfasser war Prozessbevollmächtiger des Klägers in dem Verfahren vor dem OVG NRW)